Diesen oder ähnliche Sätze höre ich gelegentlich, wenn ich mit Menschen über die ausufernden Überwachungsmaßnahmen in Deutschland, Europa und der Welt diskutiere. Zuletzt geschehen ist mir dies, als ich mich vor kurzem mit einem Bekannten über die geplante Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung unterhalten habe. Auch wenn diese stetig wiederkehrende Diskussion etwas ermüdend ist, müssen wir sie immer wieder führen und unsere Gesprächspartner überzeugen, wenn wir ein weiteres Abgleiten in den Überwachungsstaat noch abwenden wollen. Dieser kleine Artikel dient mir dabei als Gedächtnisstütze und anderen hoffentlich als Argumentationshilfe.
Sicher, dass du nichts zu verbergen hast?
„When you say I don’t care about the right to privacy because I have nothing to hide, that is no different than saying I don’t care about freedom of speech because I have nothing to say or freedom of the press because I have nothing to write.“
Edward Snowden
Zunächst einmal ist es ja positiv, wenn Menschen glauben nichts zu verbergen zu haben. Im strafrechtlichen Sinne mag dies im Regelfall sogar stimmen. Leider entpuppt sich diese Sichtweise trotzdem häufig als naiv. Denn in zunehmendem Maße werden nicht nur Informationen zu strafrechtlich relevanten Handlungen erhoben, sondern umfangreiche Daten über die gesamten Lebensumstände und Verhaltensweisen aller Bürgerinnen und Bürger auf Vorrat gesammelt. Einmal erhobene Daten wecken Begehrlichkeiten und ihre Nutzung droht schrittweise von schwersten Straftaten auf vermeintliche Kavaliersdelikte wie dem Tricksen bei der Steuererklärung ausgeweitet zu werden. Aber auch rechtlich gänzlich unbedeutende Informationen, etwa über Krankheiten und andere persönliche Probleme, können je nach Dienststelle (z. B. öffentliche Arbeitgeber, Sozialversicherungen, etc.) potenziell von Bedeutung sein. Und selbst wenn man selbige heute noch nicht hat, so können sie uns schon morgen ereilen.
Sicherlich würde auch kaum jemand einem wildfremden Passanten auf der Straße seinen Kontostand mitteilen, geschweige denn seine SMS oder E-Mails zu lesen geben. Die meisten Menschen würden dies vermutlich nicht einmal der eigenen Mutter erlauben. Vom privaten Pornokonsum ganz zu schweigen. Umso unverständlicher ist es, wenn man dies potenziell den Mitarbeitern von Polizei und Geheimdiensten oder den Technikern in den Rechenzentren großer Telekommunikationsunternehmen gestattet, nur weil man diese nicht mit einem konkreten Gesicht verbinden kann. Auch müssen die Daten bei der speichernden Stelle nicht unbedingt sicher verwahrt sein. Der theoretische Nutzerkreis kann also womöglich auch kriminelle Datendiebe mit einschließen.
Es kommt nicht auf dich allein an
Es steht jedem frei zu wählen, welche persönlichen Daten er von sich preisgeben möchte. Wer von sich behauptet, nichts zu verbergen zu haben, gehört vermutlich auch keiner Randgruppe an. Denn Überwachung trifft zuallererst vor allem jene, die von der gesellschaftlichen Norm abweichen. Wer aus der eigenen Offenheit heraus Überwachungsmaßnahmen wie der Vorratsdatenspeicherung zustimmt, der handelt egoistisch, denn er spricht anderen ebenso das Recht auf Privatsphäre ab.
Man stelle sich vor, ein enger Freund würde einem morgen ein sehr intimes Geheimnis – zum Beispiel die eigene Homosexualität – mitteilen, aus Angst vor Anfeindungen oder Diskriminierungen aber bitten, es niemandem sonst zu verraten. Als guter Freund würde man diesem Wunsch selbstverständlich entsprechen. Um Mitwisser zu vermeiden, dürfte der Freund einem dieses Geheimnis in Zeiten der Telekommunikationsüberwachung jedoch nicht via Whatsapp, E-Mail oder Telefon mitteilen.
Im Fall persönlicher Freunde ist dies noch relativ offensichtlich. Wir leben jedoch in einer komplexen Welt, in der wir auch maßgeblich von Entscheidungen anderer Menschen abhängig sind. Richter und Staatsanwälte, Politiker, aber auch die eigenen Vorgesetzten, Sachbearbeiter, Rechtsanwälte und Ärzte. Sie alle müssen sich nicht strafbar gemacht haben. Die Angst vor sozialer Ächtung (etwa in Folge der eigenen Alkoholsucht, außerehelichen Beziehungen, finanziellen Schwierigkeiten oder sexuellen Neigungen) genügt bereits, um ihr Handeln – und im Zweifel damit auch dein Leben – zu beeinflussen. Von diesem potenziellen Erpressungspotenzial sollten wir uns und alle anderen befreien.
Google und Facebook wissen doch auch alles!
Ein häufig zu hörendes Argument ist, dass private Unternehmen im Vergleich zu staatlichen Stellen auf einen wesentlich umfangreicheren Datenbestand zur eigenen Person zugreifen könnten. In vielen Fällen mag dies sogar stimmen. Und trotzdem besteht hierbei ein qualitativer Unterschied. Zum einen kann ich mich Google, Facebook und Co. zumindest weitestgehend entziehen. Staatlicher Überwachung hingegen kaum. Zum anderen besitzen private Firmen im Gegensatz zu unserem Staat kein Gewaltmonopol. Sie können uns zwar manipulieren, uns aber nicht direkt unserer Freiheit berauben. Infolgedessen ist der Staat zu größtmöglicher Zurückhaltung verpflichtet und darf keinesfalls alles tun, was ihm technisch möglich ist.
Darüber hinaus hat es etwas von Victim Blaming, wenn Politiker eine Ausweitung staatlicher Überwachung mit „digitaler Sorglosigkeit“ der Bürger zu rechtfertigen versuchen. Mit einem ähnlichen Argumentationsmuster wurde früher Frauen eine Mitschuld an ihren eigenen Vergewaltigungen unterstellt, weil diese sich zu aufreizend gekleidet hätten.
Wer soll das denn alles lesen? Die Macht der Algorithmen
Das ganze Ausmaß der Überwachung ist für die meisten Menschen nicht greifbar. „Wer sollte sich schon für meine Daten interessieren?“ oder „Wer soll denn das alles lesen?“ sind häufige Fragen in diesem Zusammenhang. Und in der Tat wird nur in Ausnahmefällen ein Mensch die Datenbestände begutachten. In der Regel gibt dieser nur die Kriterien an, nach denen ein Computerprogramm eine Vorauswahl an interessanten Personen trifft. Ob die Software dabei 100, 1000 oder 100.000 Datensätze durchforstet, ist bestenfalls eine Frage von Sekunden. Und die Leistungsfähigkeit der Rechentechnik und ihrer Programme steigt stetig weiter.
Schon längst teilen Algorithmen die Menschen in gut und böse ein. Auch als völlig Unschuldiger kann man plötzlich verdächtig werden. Beispielsweise weil die Auswahl der Kriterien ungeeignet oder die verwendete Software fehlerhaft war. Oder aber weil wir zufällig im Schleppnetz der Rasterfahnder hängen geblieben sind.
Vielleicht haben wir schon einmal ohne es zu wissen über Internet-Kleinanzeigen etwas von einer uns ansonsten unbekannten Person gekauft, die wiederum einen kennt, der unter Terrorverdacht steht (und nicht einmal tatsächlich ein Terrorist sein muss). Die Bezahlung haben wir per E-Mail geregelt, das Geld überwiesen und die Übergabe der Ware per Telefonat besprochen. Drei verdächtige Kriterien. Das reicht, sagte der Computer, und die Überwachungsmaschinerie nahm Fahrt auf. Selbst wenn sich die Hinweise später nicht erhärten sollten, bleiben sie vorsichtshalber gespeichert. Der Verdacht lebt fort und wird bei Bedarf wieder hervorgeholt. Da war doch mal was…
Direkte Folgen staatlicher Überwachung sind nur selten spürbar. Ihr Wesen ist es jedoch, dass sie häufig erst mit zeitlichem Verzug wirksam wird. In einem ersten Schritt werden verdachtsunabhängig riesige Datenberge angehäuft, um diese im Bedarfsfall nach bestimmten Mustern zu durchsuchen. Informationen, die heute noch völlig unverfänglich sind, können jedoch in der Zukunft eine andere Bedeutung erlangen. Als populäres Beispiel wird in diesem Zusammenhang häufig die niederländische Volkszählung von 1936 angeführt. Im Zuge dieser wurde – trotz des drohenden Krieges – auch die Religionszugehörigkeit aller Bürger erfasst. Nach der deutschen Besetzung der Niederlande 1940 dienten diese Angaben den Nationalsozialisten als Grundlage für das „Judenregister“ und spätere Deportationen. Ein vermeintlich harmloses Datum bedeutete später für viele niederländische Juden den Tod. Etwas Vergleichbares wird hoffentlich nie wieder passieren. Allzu sicher sollten wir uns allerdings nicht sein. Wir spielen mit dem Feuer.
Die Mär von den harmlosen Metadaten
Kritik an Überwachungsmaßnahmen wird häufig auch damit relativiert, dass ja keine Inhalts-, sondern lediglich vermeintlich harmlose Verkehrsdaten – auch Metadaten genannt – gespeichert würden. Diese Unterscheidung ist jedoch willkürlich, denn auch Metadaten enthalten intime Informationen.
Konkret bedeutet dies: Wer telefoniert wann und von wo mit wem bzw. wer ruft wann und von wo Inhalte von welchen Servern im Internet ab. Die Antwort auf nur wenige Fragen vermittelt bereits ein komplexes Bild von der Lebenssituation eines Menschen. Was kann es denn bedeuten, wenn jemand eine Suchtberatungshotline anruft? Wenn jemand außerhalb der Geschäftszeiten versucht, seinen Anwalt zu kontaktieren? Wenn jemand sich im Internet über eine bestimmte Krankheit informiert? Wenn ein verheirateter Mann zu später Stunde einer anderen Frau schreibt? Oder wenn das Mobiltelefon eines Menschen in der Funkzelle in unmittelbarer Nähe eines Bordells eingewählt ist? Einzelne Puzzleteile ergeben zusammen auch ein komplexes Bild.
Wissen ist Macht
„Ich behaupte, daß, wer immer in diesem Augenblick zittert, schuldig ist, denn die Unschuld hat von der öffentlichen Überwachung nichts zu befürchten.“
Maximilien de Robespierre,
Anführer der Terrorherrschaft während der Französischen Revolution (1794)
Durch eine einfache Funkzellenabfrage lassen sich auch beinahe alle Teilnehmer einer Demonstration in Sekundenschnelle ermitteln. Dank Vorratsdatenspeicherung funktioniert dies teilweise auch rückwirkend. Wer der Regierung und ihren Geheimdiensten den Zugriff auf diese Daten ermöglicht, verhindert womöglich schon im Ansatz eine wirksame politische Opposition. Anwohner und unbeteiligte Passanten wären der Beifang. Denn nicht immer müssen diese Rückschlüsse auch den Tatsachen entsprechen. Eine hinreichend hohe Treffergenauigkeit genügt; der Rest sind Kollateralschäden.
Wir haben gelernt, dass die Interpretation der Daten häufig in einem anderen Kontext als ihre Erhebung geschieht und sich in der Regel unserer Kenntnis entzieht. Folglich müssen die zu unser Person gespeicherten Information also in potenziell jedem denkbaren und undenkbaren zeitlichen wie inhaltlichen Kontext unverfänglich sein. Der Informationsgehalt ist dabei größer als die Summe der einzelnen Daten und auch aus vermeintlichen Marginalien lassen sich wirkmächtige Rückschlüsse gewinnen. Vorauseilender Gehorsam und konformistisches Verhalten können die Folge sein.
Überwachung schafft nicht mehr, sondern weniger Sicherheit
Die Erfahrung von zwei Diktaturen auf deutschem Boden lehrt uns, dass die Überwachung der Massen die Entrechtung des Einzelnen erst möglich gemacht hat. Auch deshalb haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes unsere Freiheitsrechte vorsorglich so angelegt, dass sie auch in einem teilweise bereits defekten Rechtsstaat noch einen Minimalschutz gewähren. Trotzdem war, verglichen mit den heutigen Möglichkeiten, der Wissensstand von Gestapo und Stasi über die eigene Bevölkerung verschwindend gering. Und dennoch geht die Datensammelwut des Staates unvermindert weiter und die vom Bundesverfassungsgericht angefertigte „Überwachungsgesamtrechnung“ verschiebt sich Schritt für Schritt weiter zu unseren Ungunsten. Angesichts der Snowden-Enthüllungen und der ungeklärten Rolle des „Verfassungsschutzes“ bei den NSU-Morden wäre es geradezu fahrlässig, im irrigen Glauben an die Unfehlbarkeit des Staates auf dieses Netz und doppelten Boden zu verzichten. Schon heute vertreten unsere Geheimdienste – das hat der NSA-Untersuchungsausschuss gezeigt – eine höchst exklusive Rechtsauffassung. Stichwort: Weltraumtheorie.
Vor diesem Hintergrund erscheint die Aussage „Wer nichts zu verbergen hat, der hat auch nichts zu befürchten“ wie eine Drohung. Wer nicht bereit ist, jederzeit alles offenzulegen, den erwarten – heute oder morgen – möglicherweise Schwierigkeiten. Dabei ist das Recht auf Privatsphäre keine Gefahr für unsere Demokratie, sondern ihre unabdingbare Voraussetzung. Dieses Grundrecht sollten wir uns in keinem Fall nehmen lassen!
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