Eigentlich wollte ich mit diesem Beitrag noch etwas warten und erst im Zusammenhang mit einer umfassenderen Wahlergebnisanalyse über mögliche Strukturreformen der Piratenpartei schreiben. Nun ist aber durch den Antrag von Michael Ebner zumindest in Teilen der Partei wieder einmal eine Diskussion darüber entbrannt, ob ein Delegiertensystem etwas am Zustand der Partei ändern könnte, oder nicht. Diese Diskussion wird bei den Piraten seit Jahren, insbesondere nach vergeigten Wahlen, energisch geführt und besonders Befürworter eines Delegiertensystems oft als Verräter an den Idealen der Partei verketzert. Ich habe daher einen Vorschlag, der meines Erachtens einen Kompromiss zwischen beide Lagern darstellen kann, weil er politische Handlungsfähigkeit mit dem hohen Anspruch der Partei nach Basisdemokratie in Einklang bringen kann. Wer meinen Vorschlag kaum erwarten kann, darf den folgenden Abschnitt gern überspringen.
Zur Situation
Die Piratenpartei ist bei der Bundestagswahl mit einem desaströsen Ergebnis von 0,37% hart aufgeschlagen. Eine umfassende Analyse dieses Ergebnisses steht zwar noch aus. Ersten Rückmeldungen anderer Kandidaten auf den entsprechenden Mailinglisten und in den Mumblechats der Partei entnehme ich aber, dass ein vernünftiger Wahlkampf in der Breite auf Grund fehlender aktiver Mitglieder gar nicht geführt werden konnte. Das Social-Media-Team war chronisch überlastet, Plakate konnten nicht rechtzeitig zur Verfügung gestellt und aufgehängt werden, Infostände waren One-Man-Shows oder wurden gleich ganz abgesagt. Bis auf wenige Ausnahmen überall dasselbe Bild: Ein Piratenschiff ohne Mannschaft. Und wenn doch mal ein Mitglied im Wahlkampf auf einen potenziellen Wähler stieß, begann das Gespräch meist mit der Frage „Piraten? Euch gibt’s noch?“. Der Beteiligungspartei fehlen die Beteiligten. Doch warum sollte ausgerechnet ein Delegiertensystem (keine Sorge, ich schlage gleich etwas anderes vor!) daran etwas ändern?
Fakt ist, dass sich ein großer Teil unserer Mitglieder (und erst recht jene, die uns bereits verlassen haben) nicht mehr in ausreichendem Maße mit der Partei verbunden fühlen. Das kann zum einen sein, weil man uns keine politischen Chancen mehr einräumt. Für diesen Teil der (Ex-)Mitglieder kann auch ich kein unmittelbares Angebot machen, weil wir auch auf absehbare Zeit politisch chancenlos bleiben werden. Soviel Ehrlichkeit sollte sein. Was wir aber tun können, ist die Grundlage dafür zu legen, dass sich daran wieder etwas ändert.
Zum anderen habe ich eine mittlere zweistellige Zahl an Mitgliedern persönlich gesprochen, die sich zwar selbst irgendwie als Piraten, aber nicht mit einem wesentlichen Teil unseres aktuellen Programms identifizieren. Da ich selbst diesem Lager angehöre, vermag ich nicht zu sagen, wie groß diese Fraktion tatsächlich ist und ob es sich möglicherweise um ein Filterblasenproblem meinerseits handelt. Was ich aber aus den persönlichen Gesprächen sagen kann, ist dass der größte Teil dieser Leute auch jede Hoffnung aufgegeben hat, in irgendeiner Weise noch signifikant Einfluss auf den Kurs der Partei nehmen zu können. Sie fühlen sich oftmals unterrepräsentiert und wählen Apathie als Form des politischen Exils. Andere hoffen auf bessere Zeiten (die so nicht kommen werden) und stellen bis dahin jegliche Unterstützung der derzeit dominierenden Fraktion ein. Dies verstärkt die Repräsentanzprobleme, führt zu einer wachsenden Entfremdung mit der Partei, fehlendem Personal im Wahlkampf und damit wiederum zu politischen Misserfolgen, Austritten und einer noch stärkeren Belastung der verbliebenen Mitglieder. Ein Teufelskreis.
Der einst so attraktive Anspruch, jedem Mitglied die Möglichkeit zu geben, direkt Einfluss auf das Handeln der Partei zu nehmen, ist so über die Jahre zunehmend pervertiert worden. Stattdessen hat sich eine Parteioligarchie herausgebildet, in der vor allem zeitlich flexible, mobile und (in geringerem Maße auch finanziell potente) Mitglieder der Partei im mächtigsten Gremium – dem Bundesparteitag – stark überrepräsentiert sind. Dieser „harte Kern“ ist über die letzten Jahre auf einen Kreis von ca. 300 Mitgliedern zusammengeschrumpft. Demgegenüber stehen rund 5400 stimmberechtigte Mitglieder, die derzeit nur geringe Chancen auf tatsächliche Mitbestimmung innerhalb der Partei haben. Die Partei verlor damit ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu anderen Parteien, welches ursprünglich für viele Mitglieder überhaupt erst der Grund war, sich ausgerechnet für die Piraten zu engagieren. Folglich kann die Einführung eines reinen Delegiertensystems und ein kompletter Bruch mit dem Prinzip „one man, one vote“ keine Lösung des Problems sein. Daher wurde bereits eine Reihe von Alternativen (von verbindlichen Online-Abstimmungen über Online-Parteitage bis hin zu parallelen, dezentralen Parteitagen) diskutiert und zum Teil erfolglos probiert. Ich möchte mit diesem Beitrag eine weitere Alternative zur Diskussion stellen.
Ein Vorschlag zur Güte
Mein Vorschlag ließe sich wie folgt kurz zusammenfassen:
Der Bundesparteitag bleibt in seiner bisherigen Form im Kern bestehen. Das heißt jedes Mitglied erhält weiterhin die Möglichkeit, an der Versammlung teilzunehmen und sein Stimmrecht wahrzunehmen. Ergänzt wird der Parteitag um eine Delegationskomponente – die man im Falle begrifflicher Vorbehalte auch Botensystem nennen könnte. Hierbei erhalten die jeweils niedrigsten Gliederungen (Kreis-, Stadt- und Bezirksverbände) die Möglichkeit, einen oder mehrere Delegierte („Boten“) zu Parteitagen zu entsenden, die das Stimmrecht ihrer nicht anwesenden Mitglieder wahrnehmen können. Aus Gründen der Nachvollziehbarkeit hat die Abstimmung der Delegierten (die parallel als einzelne Mitglieder mit einfachem Stimmrecht akkreditiert sein können) öffentlich zu erfolgen.
Auf diese Weise hätten auch verhinderte Mitglieder eine Möglichkeit, ihr Stimmrecht auf Bundesparteitagen geltend zu machen. Dies setzt voraus, dass die Kreisverbände die Chance erhalten, über Anträge und Personalien im Vorfeld zu diskutieren und zu entscheiden um den oder die Delegierten vor Beginn des BPT mit einem Votum der Gliederung auszustatten. Damit dies möglich ist, muss die Antragsfrist in zeitlich hinreichendem Abstand zum BPT enden. Zudem dürfen auf dem BPT keine wesentlichen Änderungen an Anträgen mehr erfolgen und auch sonst keine Umstände entstehen, die eine Verschiebung des bereits erfolgten Abstimmungsverhaltens rechtfertigen. So muss insbesondere die Diskussion der Anträge vorverlagert werden. Diese Diskussion sollte allen Mitgliedern der Partei offen stehen und sich nicht nur auf die beim BPT anwesenden Personen beschränken. Wiki-Arguments könnte hierfür ein geeignetes Werkzeug sein. Bereits heute gibt es jedoch eine derartige Fülle an Anträgen, die vom Parteitag kaum noch bewältigt werden kann. Mit meinem Vorschlag wäre zunächst einmal anzunehmen, dass sich die Zahl der Anträge noch weiter erhöht, da eine persönliche Anwesenheit, ein Vorstellen und ein Verteidigen des Antrags auf Parteitagen als Hürde entfällt. Um mit der zu erwartenden zahl dennoch umzugehen, schlage ich daher vor, die Tagesordnung (zumindest aber den TOP über die Abstimmung der Anträge) im Vorfeld durch ein Onlinevoting – an dem alle Mitglieder beteiligt werden könnten – festzulegen. Auf dem BPT würden dann nur die X Anträge mit dem höchsten Ranking zur Abstimmung gestellt. Durch die Vorverlagerung (und Intensivierung) der Diskussion sowie das anschließende Abstimmungsverfahren über die vorliegenden Anträge würde sich (hoffentlich) auch eine höhere Qualität der Anträge insgesamt ergeben. Über das Votum, welcher Antrag überhaupt zur Abstimmung gestellt wird, bilden sich zugleich auch die Prioritäten der Partei ab und das Programm wird nicht durch zahlreiche Nischenthemen so stark zerfasert wie derzeit. Auch GO-Schlachten um die Tagesordnung würden damit der Vergangenheit angehören. Mit Wiki-Arguments ließen sich zudem auch die besten Argumente für und gegen einen Antrag herausfiltern, sodass eine Entscheidung auch für die Mitglieder erleichtert wird, die keine Zeit haben sich hinreichend über das Für und Wider jedes einzelnen Antrags zu informieren.
Auch für Personenwahlen ist ein solches Vorgehen prinzipiell denkbar. Spontankandidaturen wären damit nicht möglich. Vielmehr müssten sich Personen frühzeitig um Parteiämter bewerben und einen regelrechten Wahlkampf um Posten führen. Hierdurch hätte jedes Mitglied die Möglichkeit, sich umfassender als bisher über die Bewerber zu informieren. Ein einmaliges sympathisches Auftreten auf dem Parteitag würde somit nicht mehr zum Erfolg führen. Zudem ist anzunehmen, dass Personen, die sich bereits innerparteilich durch einen echten Wahlkampf durchsetzen mussten auch für den Wettstreit mit der politischen Konkurrenz außerhalb der Partei besser gerüstet sind. Personelle Totalausfälle werden damit zwar nicht unmöglich, zumindest aber erschwert.
Die größten Vorbehalte gegen das von mir vorgeschlagene System bestehen vermutlich im Abstimmungsverhalten der Boten. Viele Mitglieder haben Angst, dass diese nicht in ihrem Sinne votieren könnten. Dagegen ist grundsätzlich anzuführen, dass die Boten selbst ja zunächst einmal demokratisch bestimmt werden. Darüber hinaus würde ich den Boten grundsätzlich das Recht einräumen, uneinheitlich abzustimmen oder das Stimmrecht auf mehrere Boten zu verteilen, um auch kontroverses Stimmungsbild innerhalb des Kreis- oder Stadtverbandes – und damit auch innerhalb der gesamten Partei – abzubilden. Da die Abstimmung der Boten zudem grundsätzlich öffentlich zu erfolgen hat, ist zudem auch eine gewisse soziale Kontrollfunktion gegeben, da man sich auf Ebene der niedrigsten Gliederung in der Regel persönlich kennt. Eine Abstimmung entgegen des Votums des Kreisverbandes würde somit zwangsläufig auch die Autorität des Boten untergraben und seine Wiederwahl erschweren. Wer seinem Boten dennoch massiv misstraut, erhält auch weiterhin die Möglichkeit persönlich zum BPT zu erscheinen und sein Stimmrecht wahrzunehmen oder im schlimmsten Fall einer anderen Gliederung beizutreten. Gleichzeitig wären (z. T. willkürliche) Kettendelegierungen wie bei LQFB ausgeschossen.
Abschließend noch ein paar Worte zum lieben Geld. Denn auch finanziell würde sich dieses System möglicherweise für die Partei lohnen. Grundsätzlich sind die niedrigsten Gliederungen der Piratenpartei durch die fehlgeleitete innerparteiliche Verteilung der Gelder finanziell am besten ausgestattet. Oftmals liegen dort größere Beiträge unangetastet, da jeder Kreisverband darauf bedacht, seine Unabhängigkeit zu sichern. Es sollte daher für die wenigsten Kreisverbände ein Problem darstellen, im Ernstfall zweimal im Jahr 300 Euro für einen Boten bereitzustellen. Da dieser einen klar geregelten Anspruch auf die Kostenerstattung hat, erhält er zugleich die Möglichkeit diese Auslagen aus Aufwandsverzicht an die Partei zurückzuspenden, was sich positiv auf die staatliche Parteienfinanzierung auswirken würde. Für die Boten, die auch als Einzelperson zum BPT gefahren wären, ergibt sich finanziell keinelei Unterschied und klamme Gliederungen könnten (ein entsprechendes Votum vorausgesetzt) die Botenfunktion auch auf ohnehin anwesende Mitglieder übertragen. Für die Gliederungen würde zudem der Anreiz zunehmen die Zahlungsmoral der Mitglieder zu verbessern um das eigene Stimmgewicht auf dem Parteitag zu erhöhen.
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