Thomas Ney

Stadtverordneter für Oranienburg – hier privat.

Orangerie

Bericht von der konstituierenden Sitzung der Stadtverordnetenversammlung

Urlaubsbedingt mit reichlicher Verspätung komme ich leider erst heute dazu, einen kurzen Bericht von der konstituierenden Sitzung der Stadtverordnetenversammlung von Oranienburg zu veröffentlichen. Diese fand am Montag, den 24.06.2019 in der Orangerie im Schlosspark statt.

Inhaltlich war die konstituierende Sitzung sicherlich nicht die spannendste, aber für mich persönlich natürlich interessant, da ich zum ersten Mal als Stadtverordneter an ihr teilnahm. Bereits im Vorfeld hatten wir der Verwaltung gemeldet, dass ich künftig Mitglied der gemeinsamen Fraktion „Freie Wähler/Piraten“ sein werde.

Freiheit statt Angst 2018 – Rückschau eines Ratlosen

Ich war gestern als Teil des FSA-Blocks auf der #unteilbar-Demo in Berlin. Im Folgenden möchte ich kurz meine Eindrücke schildern. Zum besseren Verständnis muss ich dafür jedoch zunächst einen Sprung zurück machen.

Die Entscheidung, die FSA nicht als eigene Demo, sondern als Block innerhalb #unteilbar-Demo zu machen, fiel Anfang September mit folgender Begründung:

„Viele unserer potentiellen Bündnispartner.innen sind auch Teil der Demo #unteilbar. Einige regten an, dass wir uns unter dem Label #unteilbar zusammenfinden sollten, statt eine eigene Demo – eine Woche später – auf die Beine zu stellen. Es gab viele überzeugende Argumente, das zu tun, und natürlich spielte auch eine Rolle, dass zwei so große Veranstaltungen im Wochenabstand die meisten überfordern würde. Digitalcourage ist mit #unteilbar in mehrfacher Weise verbunden: Die Demo #unteilbar setzt sich, wie wir, für eine offene und freie Gesellschaft ein. Digitalcourage ist Mitglied im #unteilbar-Koordinierungskreis, betreut die Finanzen und den Versand des Mobilisierungsmaterials.“

Nachdem die Demo gestern gelaufen ist, und sich nach Medienberichten über 200.000 Menschen daran beteiligt haben, erhielt ich von Digitalcourage folgende E-Mail (Auszug):

„großartig – 242.000 Menschen sind heute mit uns in Berlin für eine freie und offene Gesellschaft auf die Straße gegangen! Unsere Demo #unteilbar war Thema auf allen Kanälen. Fast 500 Organisationen haben gemeinsam aufgerufen – über alle Unterschiedlichkeiten hinweg. Denn Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat können wir nur gemeinsam verteidigen. Ein riesiger, bunter Zug bewegte sich quer durch die Berliner Innenstadt. Wir haben unseren Digitalcourage-Lautsprecherwagen als Zaubereischule Hogwarts aus Harry Potter dekoriert – und Hermine Granger protestierte gegen „Voldemorts Polizeigesetze“. Sie wurde viele tausend Male fotografiert und gefilmt. Als die Spitze der Demo an der Siegessäule angekommen war, konnten die letzten Demonstrierenden gerade erst am Alexanderplatz losgehen. Bei der Abschlusskundgebung spielten Konstantin Wecker, Herbert Grönemeyer und viele andere. Diese Demo war ein großer Erfolg – nicht nur, weil viele Menschen zusammengekommen sind, sondern weil wir damit gemeinsam ein Zeichen gesetzt haben, sich von Hass, Angst und Destruktion nicht unterkriegen zu lassen. Freiheit statt Angst!“

Dazu muss ich sagen, dass ich diese Euphorie leider nur sehr bedingt teilen kann. Der FSA-Block war bedauerlicherweise winzig und ging deshalb völlig in der Masse der Teilnehmer unter. Insofern kann ich auch nicht erkennen, inwieweit die Entscheidung, die Demo gemeinsam mit der #unteilbar zu veranstalten, dem Kampf gegen Überwachung wirklich Vorschub geleistet hat. Wenn es überhaupt einen Vorteil gab, so bestand dieser darin, immerhin einen Redeslot auf der Bühne bekommen zu haben. Ein größeres mediales Echo für die Themen der FSA hat das aber allem Anschein nach bisher nicht gebracht.

Ansonsten war das Bild aus Sicht eines Liberalen, wie ich mich selbst bezeichnen würde, katastrophal. Der FSA-Zug lief irgendwo zwischen Linkspartei und MLPD. Während der Demo wurden wir laufend mit Sprechchören wie Lang lebe die Oktoberrevolution! oder Unteilbare Solidarität mit dem Befreiungskampf des palästinensischen Volkes beschallt. Garniert wurde das Ganze mit Zitaten des bekannten Philanthropen Che Guevara. Beim Gang durch die Demo begegnete ich auch einem PKK-Sympathisantenblock und reaktionären Muslimen, die unter Anderem gegen Kopftuchverbote im öffentlichen Dienst protestierten. Andere Plakate waren in türkischer und arabischer Sprache, sodass ich ihren Inhalt nicht entnehmen konnte. Auch Initiativen gegen sogenannten „Hatespeech“ waren am Start. Später sah ich bei Twitter noch Videos eines Antifa-Blocks, der es wichtig fand eben nicht friedlich zu sein, sondern dieser Gesellschaft den Kampf an[zu]sagen und solche Schweine wie Seehofer und Merkel aus dem Amt [zu] jagen. Ich hoffe nicht, dass dies die offene und freie Gesellschaft ist, für die sich Digitalcourage gemäß der oben zitierten E-Mail mit einsetzen wollte.

Angesichts solcher „Partner“ muss man wohl beinahe von Glück sagen, dass der FSA-Block nicht wahrnehmbar war. Sicher: Bei der FSA waren immer schon schräge Vögel dabei – und das ist auch bis zu einem gewissen Maße okay so. Aber damals waren die die Minderheit. Heute sind wir Bürgerrechtler und Datenschützer es. Wen ich gar nicht gesehen habe, waren Leute vom CCC. Auch von den Piraten waren nicht halb so viele da, wie bei der Demo gegen die Uploadfilter vor anderthalb Monaten. Überhaupt habe ich nahezu keine „Techies“ wahrgenommen. Bekannten ging es ähnlich. Ein paar Leute vom FIfF allenfalls, und zwei vom Bündnis Brementrojaner. Von der Digitalen Gesellschaft habe ich nur einen Banner (unter vielen) an einem LKW gesehen. Freunde von mir hatten dies bereits vorhergesagt und blieben vorsorglich zuhause.

Ich beobachte die Situation ja schon länger. Ich war seit 2009 auf jeder FSA in Berlin und irgendwie ist die „Bewegung“ (sofern man davon überhaupt noch sprechen kann) von Mal zu Mal kleiner geworden. Darüber müssen wir als netzpolitische Szene reden. Warum gelingt es uns trotz massivster Angriffe auf die Freiheitsrechte (Stichwort: Polizeiaufgabengesetze) immer weniger, Menschen für unser (spezifisches) Anliegen zu mobilisieren? Ja warum gelingt es uns nicht einmal mehr, unsere eigenen Leute zu erreichen? In der Spitze hatte die FSA allein 25.000 Menschen auf die Straße gebracht. Wo sind denn die ganzen kreativen Nerds geblieben? Ich bin diesbezüglich zugegebenermaßen etwas ratlos. Über diesen Umstand kann jedenfalls auch nicht hinwegtäuschen, dass sich die FSA an eine andere Großdemonstration „rangehängt“ hat. Denn machen wir uns nichts vor: „Wegen der FSA“ waren gefühlt keine 500 Leute da. Und ich sage es ganz offen: Wenn die FSA nächstes Jahr wieder als Anhängsel eines solch „bunten“ Bündnisses antritt, werde auch ich nicht mehr dabei sein. Das finde ich zwar unendlich schade, weil ich das Thema unverändert für enorm wichtig halte, aber irgendwann muss auch ich mir eingestehen, dass das nicht mehr „meine“ Bewegung ist.

Foto: Ein Bild aus besseren Tagen (Screenshot der Sendung „ZDF heute“ vom 7. September 2013. Damals war ich mit einem Freund und meinem Vater in einem Beitrag zur FSA zu sehen.)

Wie dank NetzDG Kritik verstummt

Wer am Vormittag des 3. November versuchte, das Profil des renommierten Publizisten und Politikwissenschaftlers Hamed Abdel-Samad beim Kurznachrichtendienst Twitter aufzurufen, erhielt lediglich die Meldung, dass der Account gesperrt sei und dessen Inhalte folglich nicht abgerufen werden könnten. Dem mit Twitter vertrauteren Benutzer sind derlei Meldungen inzwischen bereits bekannt. Denn immer häufiger werden dort inzwischen Benutzerkonten wegen vermeintlichem oder tatsächlichem „Hatespeech“ gesperrt oder zumindest in Deutschland blockiert. Nur hatte sich der von Fanatikern bedrohte Islamkritiker in der Vergangenheit eben nicht als praktizierender Hassprediger hervorgetan. Ohnehin war Hamed Abdel-Samad auf Twitter zuletzt kaum noch aktiv in Erscheinung getreten, sondern nutzte das Profil eher zur automatischen Verbreitung seiner parallel im sozialen Netzwerk Facebook veröffentlichten Beiträge. Sein dortiges Profil war jedoch durchgängig zu erreichen und auf diesem Wege informierte der gebürtige Ägypter über die Hintergründe seiner Sperrung. So hatte Abdel-Samad Bilder und Beiträge eines algerischen Islamisten veröffentlicht, der in seiner Heimat wegen Gewalt gegen religiöse Minderheiten inhaftiert war und nun in Deutschland Asyl beantragt habe. Dieser hatte den Autor anschließend im Internet attackiert und damit möglicherweise die Sperre ausgelöst. Islamisten werden in Schutz genommen und sie dürfen weiterhin gegen den Westen [hetzen], aber Kritiker des Islamismus werden gesperrt. Wir bewegen uns definitiv in die falsche Richtung, beklagte sich Abdel-Samad. Aufgehoben wurde die Sperre nur, weil dessen Anwalt bei Twitter insistierte und einige Medien auf den Fall aufmerksam machten. Zu Gute kam dem 45-jährigen dabei vermutlich auch seine Popularität.

Der Fall Abdel-Samad ist dabei in vielerlei Hinsicht interessant. Zum einen bestätigt er die Befürchtung unzähliger Kritiker, die im Zusammenhang mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz von Noch-Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) auf die Gefahren des „Overblockings“ – eines vorauseilenden Löschens auch legaler Inhalte – hinwiesen. Zum anderen wirft er die Frage auf, wie viele weniger bekannte Nutzer für ähnliche „Vergehen“ bereits dauerhaft und unwiderruflich gesperrt wurden.

Rückblick: Bereits vor einiger Zeit hatte Heiko Maas der „Hassrede“ im Internet den Kampf angesagt und gemeinsam mit dem ebenfalls SPD-geführten Familienministerium Projekte, die sich dem Kampf gegen „Hatespeech“ verschieben hatten, unterstützt. Staatlich geförderte NGOs sollten im Rahmen einer Taskforce den Betreibern sozialer Netzwerke dabei helfen, unangemessene Beiträge zu entfernen. Kritiker bemängelten bereits damals, dass gar nicht verbindlich definiert wurde, was eigentlich unter „Hassrede“ zu verstehen sei. Als diese Initiative die gewünschte Wirkung verfehlte, zog man finanzielle Sanktionen gegen die Plattformanbieter in Betracht. Um dem Kampf gegen „Hatespeech“ zusätzlich Ausdruck zu verleihen, wurde eigens ein Gesetz erarbeitet, statt lediglich das bereits vorhandene Telemediengesetz anzupassen. Mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) werden seither Twitter, Facebook und Co. enge Fristen zur Löschung unangemessener Beiträge gesetzt. Für den Fall, dass diese der Löschung nicht umgehend nachkommen, sieht das NetzDG Strafzahlungen in nicht unerheblicher Höhe vor. Die Betreiber sollen dabei binnen kürzester Zeit und weitestgehend eigenverantwortlich – d. h. ohne Hinzuziehung ordentlicher Gerichte – über mögliche Löschungen entscheiden. Spätestens hier sahen weite Teile der Zivilgesellschaft die in Artikel 5 des Grundgesetzes garantierte Meinungsfreiheit erheblich in Gefahr. Das NetzDG wurde dennoch im Eiltempo mit den Stimmen der Großen Koalition beschlossen; wohl auch weil der bis dahin eher glücklose Justizminister dringend eine Möglichkeit zur Profilierung im anstehenden Bundestagswahlkampf benötigte.

Seit 1. Oktober ist das umstrittene Gesetz nun in Kraft und seine Kritiker – zu denen die Piratenpartei von Beginn an gehörte – dürften sich nicht erst seit dem Fall Abdel-Samads bestätigt sehen. Der bereits jetzt entstandene Eindruck ist verheerend und das NetzDG erweist sich in zunehmendem Maße als ernste Gefahr für das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht dient auch und gerade dem Schutz kritischer, unbequemer, bisweilen sogar unsachlicher oder gar bewusst provozierender Äußerungen. Und von diesem Recht waren auch die Beiträge von Hamid Abdel-Samad und zahlreichen anderen namenlosen, inzwischen blockierten Kommentatoren zweifelsohne gedeckt. Auch wenn wir vermutlich nie erfahren werden, ob sich Twitter bei seiner umstrittenen Löschung tatsächlich auf das NetzDG von Heiko Maas berief: mit diesem Gesetz hat der Justizminister den Boden für willkürliche, intransparente Löschungen missliebiger Meinungen im Internet bereitet und Netzwerkbetreiber dazu ermutigt, ihre Algorithmen derart sensibel einzustellen, dass kontroverse, vor allem aber legitime Meinungsäußerungen aus dem Netz verschwinden. Als Piraten fordern wir daher die künftige Bundesregierung auf, dieses in seiner Wirkung unberechenbare Gesetz umgehend wieder abzuschaffen, die Privatisierung der Rechtsdurchsetzung zu beenden und damit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit wieder die für eine funktionierende Demokratie unerlässliche Achtung zu verschaffen.

Persönliche Eindrücke vom BPT 17.2 der Piraten

Am 21./22. Oktober 2017 fand der Bundesparteitag der Piratenpartei Deutschland in Regensburg statt. Dieser stand unter dem Eindruck von vier verlorenen Landtagswahlen und einer mit 0,37% mehr als deutlich verlorenen Bundestagswahl. Der bisherige Bundesvorsitzende Patrick Schiffer hatte bereits vorab auf eine erneute Kandidatur verzichtet und zog zu Beginn der Veranstaltung ein bemerkenswert selbstkritisches Fazit seiner Amtszeit.

Basisdemokratie oder Delegierte – Warum nicht beides?

Eigentlich wollte ich mit diesem Beitrag noch etwas warten und erst im Zusammenhang mit einer umfassenderen Wahlergebnisanalyse über mögliche Strukturreformen der Piratenpartei schreiben. Nun ist aber durch den Antrag von Michael Ebner zumindest in Teilen der Partei wieder einmal eine Diskussion darüber entbrannt, ob ein Delegiertensystem etwas am Zustand der Partei ändern könnte, oder nicht. Diese Diskussion wird bei den Piraten seit Jahren, insbesondere nach vergeigten Wahlen, energisch geführt und besonders Befürworter eines Delegiertensystems oft als Verräter an den Idealen der Partei verketzert. Ich habe daher einen Vorschlag, der meines Erachtens einen Kompromiss zwischen beide Lagern darstellen kann, weil er politische Handlungsfähigkeit mit dem hohen Anspruch der Partei nach Basisdemokratie in Einklang bringen kann. Wer meinen Vorschlag kaum erwarten kann, darf den folgenden Abschnitt gern überspringen.

Zur Situation

Die Piratenpartei ist bei der Bundestagswahl mit einem desaströsen Ergebnis von 0,37% hart aufgeschlagen. Eine umfassende Analyse dieses Ergebnisses steht zwar noch aus. Ersten Rückmeldungen anderer Kandidaten auf den entsprechenden Mailinglisten und in den Mumblechats der Partei entnehme ich aber, dass ein vernünftiger Wahlkampf in der Breite auf Grund fehlender aktiver Mitglieder gar nicht geführt werden konnte. Das Social-Media-Team war chronisch überlastet, Plakate konnten nicht rechtzeitig zur Verfügung gestellt und aufgehängt werden, Infostände waren One-Man-Shows oder wurden gleich ganz abgesagt. Bis auf wenige Ausnahmen überall dasselbe Bild: Ein Piratenschiff ohne Mannschaft. Und wenn doch mal ein Mitglied im Wahlkampf auf einen potenziellen Wähler stieß, begann das Gespräch meist mit der Frage „Piraten? Euch gibt’s noch?“. Der Beteiligungspartei fehlen die Beteiligten. Doch warum sollte ausgerechnet ein Delegiertensystem (keine Sorge, ich schlage gleich etwas anderes vor!) daran etwas ändern?

Fakt ist, dass sich ein großer Teil unserer Mitglieder (und erst recht jene, die uns bereits verlassen haben) nicht mehr in ausreichendem Maße mit der Partei verbunden fühlen. Das kann zum einen sein, weil man uns keine politischen Chancen mehr einräumt. Für diesen Teil der (Ex-)Mitglieder kann auch ich kein unmittelbares Angebot machen, weil wir auch auf absehbare Zeit politisch chancenlos bleiben werden. Soviel Ehrlichkeit sollte sein. Was wir aber tun können, ist die Grundlage dafür zu legen, dass sich daran wieder etwas ändert.

Zum anderen habe ich eine mittlere zweistellige Zahl an Mitgliedern persönlich gesprochen, die sich zwar selbst irgendwie als Piraten, aber nicht mit einem wesentlichen Teil unseres aktuellen Programms identifizieren. Da ich selbst diesem Lager angehöre, vermag ich nicht zu sagen, wie groß diese Fraktion tatsächlich ist und ob es sich möglicherweise um ein Filterblasenproblem meinerseits handelt. Was ich aber aus den persönlichen Gesprächen sagen kann, ist dass der größte Teil dieser Leute auch jede Hoffnung aufgegeben hat, in irgendeiner Weise noch signifikant Einfluss auf den Kurs der Partei nehmen zu können. Sie fühlen sich oftmals unterrepräsentiert und wählen Apathie als Form des politischen Exils. Andere hoffen auf bessere Zeiten (die so nicht kommen werden) und stellen bis dahin jegliche Unterstützung der derzeit dominierenden Fraktion ein. Dies verstärkt die Repräsentanzprobleme, führt zu einer wachsenden Entfremdung mit der Partei, fehlendem Personal im Wahlkampf und damit wiederum zu politischen Misserfolgen, Austritten und einer noch stärkeren Belastung der verbliebenen Mitglieder. Ein Teufelskreis.

Der einst so attraktive Anspruch, jedem Mitglied die Möglichkeit zu geben, direkt Einfluss auf das Handeln der Partei zu nehmen, ist so über die Jahre zunehmend pervertiert worden. Stattdessen hat sich eine Parteioligarchie herausgebildet, in der vor allem zeitlich flexible, mobile und (in geringerem Maße auch finanziell potente) Mitglieder der Partei im mächtigsten Gremium – dem Bundesparteitag – stark überrepräsentiert sind. Dieser „harte Kern“ ist über die letzten Jahre auf einen Kreis von ca. 300 Mitgliedern zusammengeschrumpft. Demgegenüber stehen rund 5400 stimmberechtigte Mitglieder, die derzeit nur geringe Chancen auf tatsächliche Mitbestimmung innerhalb der Partei haben. Die Partei verlor damit ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu anderen Parteien, welches ursprünglich für viele Mitglieder überhaupt erst der Grund war, sich ausgerechnet für die Piraten zu engagieren. Folglich kann die Einführung eines reinen Delegiertensystems und ein kompletter Bruch mit dem Prinzip „one man, one vote“ keine Lösung des Problems sein. Daher wurde bereits eine Reihe von Alternativen (von verbindlichen Online-Abstimmungen über Online-Parteitage bis hin zu parallelen, dezentralen Parteitagen) diskutiert und zum Teil erfolglos probiert. Ich möchte mit diesem Beitrag eine weitere Alternative zur Diskussion stellen.

Ein Vorschlag zur Güte

Mein Vorschlag ließe sich wie folgt kurz zusammenfassen:

Der Bundesparteitag bleibt in seiner bisherigen Form im Kern bestehen. Das heißt jedes Mitglied erhält weiterhin die Möglichkeit, an der Versammlung teilzunehmen und sein Stimmrecht wahrzunehmen. Ergänzt wird der Parteitag um eine Delegationskomponente – die man im Falle begrifflicher Vorbehalte auch Botensystem nennen könnte. Hierbei erhalten die jeweils niedrigsten Gliederungen (Kreis-, Stadt- und Bezirksverbände) die Möglichkeit, einen oder mehrere Delegierte („Boten“) zu Parteitagen zu entsenden, die das Stimmrecht ihrer nicht anwesenden Mitglieder wahrnehmen können. Aus Gründen der Nachvollziehbarkeit hat die Abstimmung der Delegierten (die parallel als einzelne Mitglieder mit einfachem Stimmrecht akkreditiert sein können) öffentlich zu erfolgen.

Auf diese Weise hätten auch verhinderte Mitglieder eine Möglichkeit, ihr Stimmrecht auf Bundesparteitagen geltend zu machen. Dies setzt voraus, dass die Kreisverbände die Chance erhalten, über Anträge und Personalien im Vorfeld zu diskutieren und zu entscheiden um den oder die Delegierten vor Beginn des BPT mit einem Votum der Gliederung auszustatten. Damit dies möglich ist, muss die Antragsfrist in zeitlich hinreichendem Abstand zum BPT enden. Zudem dürfen auf dem BPT keine wesentlichen Änderungen an Anträgen mehr erfolgen und auch sonst keine Umstände entstehen, die eine Verschiebung des bereits erfolgten Abstimmungsverhaltens rechtfertigen. So muss insbesondere die Diskussion der Anträge vorverlagert werden. Diese Diskussion sollte allen Mitgliedern der Partei offen stehen und sich nicht nur auf die beim BPT anwesenden Personen beschränken. Wiki-Arguments könnte hierfür ein geeignetes Werkzeug sein. Bereits heute gibt es jedoch eine derartige Fülle an Anträgen, die vom Parteitag kaum noch bewältigt werden kann. Mit meinem Vorschlag wäre zunächst einmal anzunehmen, dass sich die Zahl der Anträge noch weiter erhöht, da eine persönliche Anwesenheit, ein Vorstellen und ein Verteidigen des Antrags auf Parteitagen als Hürde entfällt. Um mit der zu erwartenden zahl dennoch umzugehen, schlage ich daher vor, die Tagesordnung (zumindest aber den TOP über die Abstimmung der Anträge) im Vorfeld durch ein Onlinevoting – an dem alle Mitglieder beteiligt werden könnten – festzulegen. Auf dem BPT würden dann nur die X Anträge mit dem höchsten Ranking zur Abstimmung gestellt. Durch die Vorverlagerung (und Intensivierung) der Diskussion sowie das anschließende Abstimmungsverfahren über die vorliegenden Anträge würde sich (hoffentlich) auch eine höhere Qualität der Anträge insgesamt ergeben. Über das Votum, welcher Antrag überhaupt zur Abstimmung gestellt wird, bilden sich zugleich auch die Prioritäten der Partei ab und das Programm wird nicht durch zahlreiche Nischenthemen so stark zerfasert wie derzeit. Auch GO-Schlachten um die Tagesordnung würden damit der Vergangenheit angehören. Mit Wiki-Arguments ließen sich zudem auch die besten Argumente für und gegen einen Antrag herausfiltern, sodass eine Entscheidung auch für die Mitglieder erleichtert wird, die keine Zeit haben sich hinreichend über das Für und Wider jedes einzelnen Antrags zu informieren.

Auch für Personenwahlen ist ein solches Vorgehen prinzipiell denkbar. Spontankandidaturen wären damit nicht möglich. Vielmehr müssten sich Personen frühzeitig um Parteiämter bewerben und einen regelrechten Wahlkampf um Posten führen. Hierdurch hätte jedes Mitglied die Möglichkeit, sich umfassender als bisher über die Bewerber zu informieren. Ein einmaliges sympathisches Auftreten auf dem Parteitag würde somit nicht mehr zum Erfolg führen. Zudem ist anzunehmen, dass Personen, die sich bereits innerparteilich durch einen echten Wahlkampf durchsetzen mussten auch für den Wettstreit mit der politischen Konkurrenz außerhalb der Partei besser gerüstet sind. Personelle Totalausfälle werden damit zwar nicht unmöglich, zumindest aber erschwert.

Die größten Vorbehalte gegen das von mir vorgeschlagene System bestehen vermutlich im Abstimmungsverhalten der Boten. Viele Mitglieder haben Angst, dass diese nicht in ihrem Sinne votieren könnten. Dagegen ist grundsätzlich anzuführen, dass die Boten selbst ja zunächst einmal demokratisch bestimmt werden. Darüber hinaus würde ich den Boten grundsätzlich das Recht einräumen, uneinheitlich abzustimmen oder das Stimmrecht auf mehrere Boten zu verteilen, um auch kontroverses Stimmungsbild innerhalb des Kreis- oder Stadtverbandes – und damit auch innerhalb der gesamten Partei – abzubilden. Da die Abstimmung der Boten zudem grundsätzlich öffentlich zu erfolgen hat, ist zudem auch eine gewisse soziale Kontrollfunktion gegeben, da man sich auf Ebene der niedrigsten Gliederung in der Regel persönlich kennt. Eine Abstimmung entgegen des Votums des Kreisverbandes würde somit zwangsläufig auch die Autorität des Boten untergraben und seine Wiederwahl erschweren. Wer seinem Boten dennoch massiv misstraut, erhält auch weiterhin die Möglichkeit persönlich zum BPT zu erscheinen und sein Stimmrecht wahrzunehmen oder im schlimmsten Fall einer anderen Gliederung beizutreten. Gleichzeitig wären (z. T. willkürliche) Kettendelegierungen wie bei LQFB ausgeschossen.

Abschließend noch ein paar Worte zum lieben Geld. Denn auch finanziell würde sich dieses System möglicherweise für die Partei lohnen. Grundsätzlich sind die niedrigsten Gliederungen der Piratenpartei durch die fehlgeleitete innerparteiliche Verteilung der Gelder finanziell am besten ausgestattet. Oftmals liegen dort größere Beiträge unangetastet, da jeder Kreisverband darauf bedacht, seine Unabhängigkeit zu sichern. Es sollte daher für die wenigsten Kreisverbände ein Problem darstellen, im Ernstfall zweimal im Jahr 300 Euro für einen Boten bereitzustellen. Da dieser einen klar geregelten Anspruch auf die Kostenerstattung hat, erhält er zugleich die Möglichkeit diese Auslagen aus Aufwandsverzicht an die Partei zurückzuspenden, was sich positiv auf die staatliche Parteienfinanzierung auswirken würde. Für die Boten, die auch als Einzelperson zum BPT gefahren wären, ergibt sich finanziell keinelei Unterschied und klamme Gliederungen könnten (ein entsprechendes Votum vorausgesetzt) die Botenfunktion auch auf ohnehin anwesende Mitglieder übertragen. Für die Gliederungen würde zudem der Anreiz zunehmen die Zahlungsmoral der Mitglieder zu verbessern um das eigene Stimmgewicht auf dem Parteitag zu erhöhen.

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