Stadtverordneter für Oranienburg – hier privat.

Karte der Schlacht von Leuthen (1757)

Wer überall stark sein will, ist überall schwach

Ein Beitrag zur mittelfristigen Strategie der Piratenpartei

Zusammenfassung (tl;dr)

In der jetzigen Situation kann es der Piratenpartei nicht vordergründig darum gehen, selbst aktiv Politik zu gestalten. Zwar sitzen wir noch in vier Landesparlamenten und unzähligen Kommunalvertretungen und können dort eigene Ideen einbringen. Es ist aber abzusehen, dass dies ein Auslaufmodell sein wird, wenn es uns nicht gelingt die Stimmung in der Partei und unsere Außenwahrnehmung grundlegend zu ändern. Um das Ruder noch einmal herumzureißen, sollten wir uns auf unsere Stärken zurückbesinnen. Statt uns inhaltlich wie auch methodisch an etablierten Parteien zu orientieren, sollten wir lieber den Mut zur Lücke beweisen und stattdessen die Themen, für die wir einst gewählt wurden, wieder pointiert auf die Agenda bringen. Wir müssen vor allem mit kreativen statt aufwendigen Aktionen für den Bürger (besonders unser Stammklientel), die Medien und die politische Konkurrenz, aber auch für unsere eigenen Mitglieder wieder wahrnehmbar werden. Angesichts langsam schwindender finanzieller wie personeller Ressourcen muss uns allerdings klar sein, dass wir dafür nicht mehr viele Versuche bekommen werden. Wir haben wenig zu verlieren und sollten deshalb konsequent alles auf unsere stärkste Karte – unsere Kernthemen – setzen. Dieses Land braucht eine moderne Bürgerrechtspartei für das digitale Zeitalter.

Im Nachgang an die Ereignisse vom außerordentlichen Bundesparteitag der Piratenpartei in Halle und dem Austritt einiger ihrer bekannten Gesichter hatte ich gefragt, ob es den Piraten nunmehr gelingen könne, noch einmal in See zu stechen. Seitdem sind gut fünf Monate vergangen, in denen zwar viel passiert ist, der Status der Partei sich aber nicht signifikant verbessert hat. Um es unumwunden zu sagen: Der Zustand ist noch immer bescheiden. Es dominiert die Ernüchterung, bisweilen sogar eine gewisse Hoffnungslosigkeit. Die Partei verharrt in der Defensive; eigene politische Impulse setzen wir derzeit bestenfalls noch regional.

Sicherlich hat niemand Wunder erwartet, zumal auch andere Parteien in der Vergangenheit erhebliche Zeit benötigt haben, um sich aus ähnlichen Krisen wieder herauszuarbeiten. Auch deshalb habe ich damals mit einem gewissen Optimismus gesagt, dass die Chancen heute nicht unbedingt schlechter stehen, als sie 2009 waren. Dazu stehe ich auch noch heute. Der bestehende Bundesvorstand hat gute Arbeit darin geleistet, die Partei kurzfristig – wenn auch auf niedrigem Niveau – zu konsolidieren. Besorgniserregend ist aber, dass es den Piraten offenbar immer noch an einer klaren längerfristigen Strategie aus der Krise fehlt. Dadurch verlieren wir Zeit und damit Geld, vor allem aber – und das ist entscheidender – die Motivation vieler Mitglieder. Ein Comeback ohne die staatliche Teilfinanzierung ist möglich. Ein Comeback mit überwiegend demotivierten Mitgliedern nicht.1

Erfahrungsgemäß sind Menschen aber meist dann besonders leidensfähig, wenn sie ein klares Ziel vor Augen haben und man ihnen einen halbwegs realistischen Weg dorthin aufzeigt.

Das Ziel

Es gab mal eine Zeit, da waren die Piraten von einer Welle der Euphorie getragen. Zweistellige Umfragewerte vermittelten den Eindruck, wir könnten die etablierten Parteien geradezu vor uns hertreiben. Das ist lange her. Inzwischen wurde uns das Ruder vollends aus der Hand genommen. Statt einen Kurs für das Land vorzugeben, beschränken wir uns derzeit bestenfalls auf das Reagieren. Dabei bräuchten wir gar keine zehn, geschweigedenn 50 Prozent, um dieses Land zu verändern. Was wir brauchen, sind fünf Prozent. Vielleicht nicht einmal das. Zumindest aber muss es unserem politischen Gegner wieder möglich erscheinen, dass wir diese entscheidende Hürde nehmen können. Dafür brauchen wir bundesweit zwischen drei und vier Prozent, also mehr als doppelt so viele Stimmen wie aktuell. Mittelfristig muss das unser Ziel sein.

Der lange Weg

Wenn wir den Wähler wieder erreichen wollen, müssen wir ihm vor allem erklären, worin wir besser als die anderen Parteien sind. Das bedeutet, wir müssen uns auf unsere Stärken zurückbesinnen, statt zu versuchen dem Wähler zu erklären, dass wir zu fast allem auch was im Programm zu stehen haben.

Das Thema, bei dem man den Piraten noch immer die größte Kompetenz zuspricht, ist die Netzpolitik in Verbindung mit Bürgerrechten im digitalen Zeitalter. Wenn wir also wieder einen Achtungserfolg setzen wollen, dann sollten wir dies zunächst auf unserem ureigenen Territorium versuchen. Themen gibt es auch hier genug. Die EU-Datenschutzverordnung wird aufgeweicht, die Netzneutralität aufgehoben, der Überwachungsskandal von NSA und BND vertuscht, die Störerhaftung hält sich hartnäckig und selbst die schon erledigt geglaubte Vorratsdatenspeicherung taucht immer wieder wie ein Untoter auf. Kurzum: Unsere ursprüngliche Mission ist keineswegs erfüllt. Die „Notwehr“, die viele einst zu den Piraten führte, ist noch nicht erfolgt. Zwar sind einzelne unserer Themen inzwischen stärker in der Mitte der Gesellschaft angekommen und stellenweise hat der politische Gegner sogar versucht uns diese wegzunehmen. Insgesamt dienten die netzpolitischen Zirkel der etablierten Parteien allerdings mehr als Feigenblatt, um sagen zu können, man würde ja auch „was mit Internet“ machen. Wirkliche Lösungen wurden bis heute nicht angeboten. Die „Digitale Agenda“ der Bundesregierung illustriert dies nur zu allzu deutlich. Wenn es eine echte Alternative zu den Piraten gäbe, wären wir nicht mehr hier!

Die Frage ist, ob diese Themen für eine langfristige Etablierung reichen. Vermutlich nicht. Aber wenn es uns hier gelingt wieder Aufmerksamkeit zu erhalten, können wir das Heft des Handels schrittweise wieder in die Hand bekommen. Zumindest für den Moment müssen wir aber akzeptieren, dass im Vergleich zum politischen Gegner unsere Mittel arg limitiert sind. Und wer überall stark sein will, der ist in der Regel überall schwach. Wer also andere Themen beackern möchte, wird künftig weniger auf die Unterstützung der Partei setzen können. Denn jedes Aufspalten unserer knappen Ressourcen würde nur dazu führen, dass wir unserem politischen Gegner auf jedem Feld hoffnungslos unterlegen wären und unsere Ideen – so gut sie im einzelnen auch sein mögen – nicht hinreichend vermitteln könnten. Eine Materialschlacht gegen „die Großen“ ist genauso aussichts- wie sinnlos; ohne überzeugende Ideen würde sie uns auch nicht über die fünf Prozent hieven. Daher sollten wir zunächst wieder unseren Markenkern schärfen und unser ursprüngliches Kernklientel zurückgewinnen. Nimmt man das Abschneiden bei den letzten beiden Bundestagswahlen (2009 ohne Sachsen 2,0%, 2013 bundesweit 2,2%) als Maßstab, so dürfte dieser gut die Hälfte der als Zwischenziel anvisierten Stimmen ausmachen und uns zumindest wieder in Reichweite der Wahrnehmungsschwelle bringen.

Allerdings haben wir dafür nicht mehr viele Pfeile im Köcher. Die nächsten Schüsse – einer allein wird kaum reichen – müssen sitzen. Die nicht unmittelbar gebundenen personellen und finanziellen Mittel sollten daher auf wenige, dafür aber durchschlagendere (d. h. öffentlichkeitswirksame) Projekte konzentriert werden. Konkret bedeutet dies, dass unsere Infrastruktur auf ein gesundes Maß zurechtgestutzt und unnötige Tools abgestellt werden müssen.2 Die Struktur der Partei muss verschlankt und inaktive bzw. personell stark ausgedünnte Gliederungen notfalls aufgelöst oder zusammengeschlossen werden. Finanziell sollte die Bundespartei eine stärkere Gewichtung erhalten, alle größeren Ausgaben koordinieren und vor allem die zum Teil gießkannenartige Subventionierung diverser Kleinstprojekte und -veranstaltungen einstellen. Inhaltlich müssen wir stattdessen vermutlich wieder verstärkt auf kleinere, selbstorganisierte und dezentral operierende Einheiten setzen (Stichwort: „piratiges Mandat“) um insbesondere bei unseren Themen schneller als die Konkurrenz zu sein. Dies setzt jedoch voraus, dass die Grundwerte unserer Partei wieder vorbehaltslos beachtet werden und zugleich Voraussetzungen für eine effektive Durchsetzung der Satzung und schnelle Interventions- und Sanktionsmöglichkeiten bei etwaigen Verstößen hergestellt werden. Zweifelsohne haben uns viele talentierte Mitglieder verlassen. Aber auch unsere verbliebenen Mitglieder sind überwiegend sehr kreativ, überdurchschnittlich gebildet, gut vernetzt und zeitlich vergleichsweise flexiblel. Das ist unser entscheidender Vorteil gegenüber der Konkurrenz. Es muss uns lediglich gelingen, dieses Potenzial mit einigen wenigen Initiativen wieder zu aktivieren. Dies ist die Voraussetzung für kreative (und zugleich ressourcenschonende) Aktionen, die unsere eigenen Mitglieder wieder motivieren, die Partei wieder in die Medien bringen und somit auch wieder ein breites Interesse außerhalb unserer Bubble wecken können. Dann bekommen wir auch wieder genügend Rückenwind um noch einmal anzugreifen. Über die vielen fleißigen Piraten, die in Kommunalparlamenten eine hervorragende und engagierte Arbeit leisten, haben wir noch einen Fuß in der Tür.

Eine stärkere Fokussierung auf unsere Kernthemen muss dabei keineswegs ein Mangel sein. In der Vergangenheit hat uns nichts so sehr geschadet, wie der parteiinterne aber öffentlichkeitswirksame Streit zwischen „Linksbizarren“ und „Spezialliberalen“. Konzentrieren wir uns also zunächst auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, bevor wir mit Weltraumaufzügen nach den Sternen greifen. Fürs Erste müssen wir wieder geschlossen auftreten – eine Ausweitung der aktiven Themenfelder steht uns auch zu einem späteren Zeitpunkt noch offen. Aber erstmal sollten wir uns um das kümmern, wofür wir gewählt wurden. In einer Situation, in der weite Teile der Bevölkerung entweder gar nicht oder ausschließlich das geringste Übel wählen, kann ein eng umrissener, dafür aber verlässlicher Markenkern sogar eine nicht zu unterschätzende Chance darstellen. So leben die Grünen auch heute noch zu einem erheblichen Teil von ihrem Label als „Umweltpartei“. Unser Label ist das der „digitalen Bürgerrechtspartei“. Die Piraten sollen ein Angebot für alle aufrechten Demokraten sein, die mit der bisherigen Art und Weise, wie in unserem Land Politik gemacht wird, unzufrieden sind. Gegen die konsequente, aber zugleich vorwärtsgewandte Verteidigung von Freiheits- und Bürgerrechten in einer zunehmend digitalisierteren Welt wird im Zweifel so gut wie niemand etwas einzuwenden haben. Die konkreten Fragen vor Ort müssen dann unsere gewählten Vertreter nach bestem Wissen und Gewissen auf Basis unserer Grundsätze fällen. Dafür müssen wir unsere Kandidaten hinreichend sorgfältig auswählen. Wir brauchen nicht zu allem eine vorgefertigte Meinung, denn unser Ziel war es nie, eine All-in-One-Lösung zu bieten. Aber das versprochene Update für unser demokratisches Betriebssystem, das sollten wir endlich liefern. Erst wenn das geschafft ist, werden wir sehen ob es dann noch Piraten braucht. Packen wir es an und finden es raus!

1 Im folgenden Artikel habe ich mich ausschließlich auf die politische Positionierung der Piratenpartei allgemein und die mittelfristigen Handlungsoptionen der Parteiführung beschränkt. Die noch immer virulenten Probleme in Bezug auf innerparteiliche Werte und Umgangsformen habe ich bewusst ausgeblendet, wenngleich diese selbstverständlich erheblichen Einfluss auf die Motivation der Mitglieder und die Außenwahrnehmung der Piratenpartei besitzen.

2 Dazu zählt das undurchdringliche Wirrwarr unzähliger verwaister Mailinglisten und Wikiseiten, die auch nach außen einen bemitleidenswerten Eindruck vermitteln. Zudem sollte die Zusammenlegung redundanter Infrastruktur geprüft und die politisch obsolete Bundesinstanz von LiquidFeedback stillgelegt werden.

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„Ich habe ja nichts zu verbergen“

  1. Clemens Rostock

    Hey Thomas,

    in einem gebe ich Dir auf jeden Fall Recht. Viele Wiki-Seiten sind schlecht und führen selbst Interessierte ins Nirwana. Da schreckt ab!

    LG, Clemens

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